17 Mai 2017

Meine Hilfe ist unerwünscht

Immer wenn ich eine Nachricht von Kalle Schwensen im Posteingang habe, durchzuckt es mich bang. Denn es droht die Gefahr einer Begegnung mit ihm, und die hat gewöhnlich Folgen für meine körperliche Integrität, gerade dann, wenn Kalle Schwensen einem grundsätzlich freundlich gesinnt ist. 

Diesmal lud er mich ein, und zwar zu seinem „Hardcore-Fight-Event“ am 10. Juni. Wobei Kalle Schwensen unter „Einladung“, wie sich rasch herausstellte, etwas anderes versteht als der gemeine Durchschnittsbürger. Der gemeine Durchschnittsbürger nämlich hebt bei diesem Begriff erfreut die Braue, erwartet Freigetränke, ein von kurzberockten Promomodels dargereichtes Flying Buffet und generell einen Abend, an dem man auf die Mitführung von Bargeld getrost verzichten kann.

Nicht so bei Kalle Schwensen. Seine „Einladung“ bestand darin, dass ich für 600 Tacken seinem Freistilboxereignis hätte beiwohnen dürfen. Ich lehnte mit dem Argument ab, dazu sei ich zu zart besaitet. Außerdem habe ich gerade genug von Leuten, die K.O. gegangen sind. So wie neulich auf dem Tschaikowsky-Platz.

Ich war gerade dort eingebogen, als ich zwei Räder herumliegen sah, daneben zwei Menschen. Der eine war weiblich und saß verstört auf dem Boden, der andere, ein behelmter, etwas teigig wirkender Mann, lag einige Meter entfernt augenscheinlich bewusstlos auf Bauch und Gesicht und gab jämmerliche Stöhnlaute von sich.

Mehrere Personen stürzten herbei, ich zückte mein Telefon, wählte die 112 und meldete einen Fahrradunfall mit Verletzten. Man käme sofort, hieß es. Inzwischen war die Frau hinübergerobbt zu ihrem Kontrahenten, der wieder erwacht war und sich in eine sitzende Position gehievt hatte. Seine Beine lagen flach auf dem Pflaster des Tschaikowsky-Platzes, die Füße kippten nach außen.

„Der Notarzt ist gleich da“, sagte ich zu den Opfern, um ihnen in all ihrem Leid eine hoffnungsvolle Perspektive zu bieten. Die Frau schaute hoch. Am Kinn hatte sie eine Schürfwunde so groß wie ein Ein-Euro-Stück. „Nicht nötig“, sagte sie, „ich bin Ärztin.“

Das konsternierte mich. Wie konnte sie, auch wenn sie Ärztin war, wissen, was dem Mann fehlte – hätte er nicht über ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Lungenriss, gebrochene Rippen oder derlei verfügen können? Und wer weiß, was sie selbst außer der Wunde am Kinn noch alles abgekriegt hatte. So was merkt man unterm Einfluss der unfallbedingten Adrenalinflut ja oft erst später.

„Aber der Notarzt sollte sich das schon einmal anschauen“, beharrte ich auf das übliche Procedere. Der Mann schüttelte kraftlos den Kopf, während er ins Leere starrte. „Nein, schon gut“, hauchte er. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte die Ärztin mit nunmehr verärgertem Unterton und – zu dem Mann gewandt –: „Das ist bestimmt nur der Schreck, nicht wahr?“

Er nickte. „Vor allem für meine neue Hüfte.“

Anscheinend verstand diese Jüngerin Aeskulaps unter ärztlicher Sorgfaltspflicht etwas entschieden anderes als der gemeine Durchschnittsbürger, den ich dort, auf dem Tschaikowsky-Platz, bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit zu repräsentieren die Ehre hatte.

Aber was sollte ich machen? Mir blieb nur die Hoffnung, dass der Notarzt einträfe, ehe die Ärztin ihren hüftoperierten Schicksalsgenossen vom Ort des Geschehens weggeschafft hatte. Denn wahrscheinlich – so die Vermutung von Ms. Columbo, als ich ihr die Geschichte erzählte – trug sie die alleinige Schuld am Unfallgeschehen und wollte sich keiner Investigation stellen.

Aber wahrscheinlich werden wir das niemals erfahren, denn ich überließ die beiden ihrem Schicksal. Auch mein Fass hat Grenzen.

Foto: kalle-schwensen.de


13 Mai 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (115)



Außenalsterimpressionen, gesehen durch die Prisma-Brille.

Nachschub gibt es (fast) täglich auf meinem Twitter-Account unter dem Hashtag #mittagspause, denn genau dann entstehen diese Bilder.


12 Mai 2017

Der Mondpreiseffekt des ESC

Der deutsche Schauplatz des Eurovision Song Contest ist ja, wie Sie auch als Nichthamburger sicherlich wissen, der Spielbudenplatz hier auf St. Pauli, direkt an der Reeperbahn. Uns trennt genau eine Häuserzeile vom Ort des Geschehens, und bei geöffneter Balkontür bekämen wir – wie schon mehrfach mitgeteilt – auch ohne Fernsehton alles mit. 

Diese Veranstaltung erreicht zwar zugegebenermaßen nicht ganz die Vergrätzungskraft der Harley Days oder gar des Schlagermove, doch sie löst hier im Viertel reflexhaft einen ähnlichen Impuls aus – nämlich den fraglichen Abend (also diesen Samstag) lieber ganz woanders zu verbringen, zum Beispiel auf einer Almhütte oder der internationalen Raumstation.

Angesichts solcher instinktiv richtigen Fluchtreflexe umso unfasslicher ist allerdings die Tatsache, dass es anscheinend Menschen gibt, die den Kiez nicht nur nicht weiträumig meiden, sondern an diesem Wochenende wegen des ESC sogar gezielt anreisen. Die extra hierher kommen, nach St. Pauli, nur wegen des Eurovison Song Contest. 

Und das scheinen sogar erfahrungsgemäß nicht wenige zu sein – wie sonst wäre die auf dem Foto dokumentierte Mondbepreisung des Ibis-Hotels bei uns um die Ecke zu erklären? Dort rechnet die Geschäftsführung mit einem deutlich erhöhtem Gästeaufkommen – und lässt deshalb den Doppelzimmerpreis an diesem Wochenende auf sagenhafte 209 Euro explodieren. 

Zweihundertneun Euro! Dabei hat diese Absteige Etagenbetten! Sie ist mehr Jugendherberge als Vier Jahreszeiten! Und wenn schon nicht die Veranstaltung als solche, so sollte doch derlei leicht durchschaubare Melk- und Ausquetschabsicht auch den gutmütigsten Eurodancetolerierer sofort von einer Anreise Abstand nehmen lassen.

Andererseits … Möchten Sie stattdessen vielleicht lieber bei uns übernachten? Ab 666 Euro würden wir mit uns reden lassen. 

(Wobei ich Ms. Columbo über diese Offerte noch gar nicht informiert habe; da bleibt also ein Restrisiko.)



10 Mai 2017

Die gemütlichsten Ecken von Hamburg (114)


… quoth the raven: „Nevermore!“

Entdeckt im Alsterpark, und jetzt ist aber auch mal Zeit für Frühling.



06 Mai 2017

Die Unerträglichkeit meines Raschelns

Nach Fitnesskurs und Saunagang legte ich mich auf eine Liege und las die FAZ. Gerade war ich beim Feuilletonteil angelangt und wollte mich einem Text über Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ widmen, als sich jemand vor mich stellte und auf mich einzureden begann.

Zunächst zweifelte ich kurz daran, überhaupt gemeint zu sein, was mich den Anfang seiner Suada verpassen ließ. Weder kannte ich diesen Menschen, noch vermochte ich ihm – da gedanklich gerade der Welt Heimito von Doderers verhaftet – zu folgen. 

Doch er schaute mich beim Reden stier an, und sein Blick war alles andere als freundlich. Im Gegenteil: Mühsam gebändigter Ärger schimmerte ihm aus buschig überwölbten Augen, und sein fratzenartiges Eislächeln war blutrünstig.

Der Mann war, wie ich jetzt wahrnahm, ein über und über tätowierter Muskeldeutscher, rothaarig, mit Vollbart und Brilli im Ohr. Sozusagen die Hipstervariante von Arnold Schwarzenegger. Und nach und nach kristallisierte sich für mich auch so etwas wie Semantik aus seinem feurigen Bramabarsieren.

Es ging ihm nämlich um die Art, wie ich Zeitung las. Ich hatte, wie er mir in hastigen Wortkaskaden vorhielt, beim Umblättern geraschelt, und zwar unentwegt. 

Das konnte zwar so nicht ganz stimmen, denn immerhin hatte ich mich manchem FAZ-Text – zum Beispiel jenem Kommentar, der sich kritisch mit Erdogans Todesstrafenreferendumswunsch auseinandersetzte – durchaus längere Zeit gewidmet, in dieser Phase also durchaus wenig geraschelt. Aber sonst schon; schließlich war ich bereits im Feuilleton angelangt. Allerdings erschloss sich mir nicht sofort, warum mein raschelndes Blättern ein Problem sein sollte.

Er erklärte es mir in hochgradiger Aufregung. Mein Rascheln sei „unerträglich“, hielt der Muskelhipster mir vor, schließlich sei das hier ein „Ruheraum“, und wie ich es denn wohl meinerseits fände, wenn er plötzlich anfinge, Karaoke zu singen.

Die Situation schien mir recht absurd, die Diskrepanz zwischen seiner optischen Erscheinung und der Feinfühligkeit hinsichtlich des Umgebungsschalls fast komisch. Das wollte ich dem vor Ärger fast platzenden Bi- und Trizepswunder aber aus deeskalierenden Erwägungen so nicht unbedingt erläutern. Stattdessen machte ich ihn auf den Lautstärkeunterschied zwischen Rascheln und Karaokesingen aufmerksam, der doch recht beträchtlich sei.

Eine beschwichtigende Wirkung hatte dieser Einwand kaum, zumal er nicht mal richtig hinhörte. Er wolle mir „das nur mal sagen“, erregte er sich; gemeint sei das „nur mal so als Hinweis“ auf meine Rücksichts- und Gedankenlosigkeit. 

Dann warf er sich adrenalingetränkt auf seine Liege und ich hatte plötzlich keine Lust mehr auf Heimito von Doderer. Dafür umso mehr auf Sibylle Berg, die mich, was mir dank der heutigen Begegnung wieder einfiel, in ihrem Newsletter mal zärtlich „Raschelhufer“ genannt hatte. 

So nahm alles wieder mal ein versöhnliches Ende.


01 Mai 2017

27 April 2017

Stärker als Odysseus!


„Sie beteiligen sich also dieses Jahr am Darwin-Award. Wie genau?“

„Ich stapfe durch den Wald und sammle wahllos Pilze. Irgendein Knollenblätterdings wird schon dabei sein.“

„Und welche Chancen rechnen Sie sich mit dieser Taktik aus?“

„Ach, es wird nicht für die Top 100 reichen.“

„Warum so pessimistisch?“

„Zu viele Smartphonezombies am Start.“

*

Der einleitende Dialog ist natürlich frei erfunden, nicht aber unser jüngstes Ikea-Erlebnis. Wir waren dort, um einige Balkonmöbel zu kaufen, und deshalb lenkte ich einen dieser exorbitant aufnahmefähigen, weil seitenwandlosen Ikea-Schiebewagen durch die Gänge. 

Wie wir alle wissen, geht man zu Ikea gewöhnlich mit einer sehr konkreten Einkaufsliste und verlässt den Laden dann mit der Basisausstattung eines Achtpersonenhaushalts. Plus Speditionsvertrag. 

Wir allerdings erlebten etwas sehr, sehr Sonderbares, ja geradezu Verstörendes: Wir fanden keinerlei genehme Balkonmöbel und auch sonst nix. Sondern lediglich eine kleine Uhr fürs Klo. Kostenpunkt: 0,99 Euro. 

Mit ihr als Bestückung des megalomanischen Ikea-Einkaufswagens rollte ich peinlich berührt gen Kasse. Dort zeigte man sich ungerührt. Nur eine Kartenzahlung war nicht möglich. Aber ich muss zugeben, ich hab’s auch nicht versucht.

Seit diesem Erlebnis fühle ich mich mental viel stärker. Ich habe seither das Gefühl, keinerlei Versuchungen mehr anheimfallen zu können. Wäre ich Odysseus, man bräuchte mich selbst in Hörweite der Sirenen nicht mehr an den Mast zu binden, ich schwör.

Allerdings dürfen Sie mir bitte so was hier nicht vor der Nase baumeln lassen. Dann kann selbst der weltweit glorioseste Ikea-Widersteher von ganz St. Pauli für nichts mehr garantieren.



15 April 2017

Vom Segen der Taubheit (mit Pareidolie 118)

Wien hat die in Deutschland alljährlich so heftig diskutierte Karfreitagsproblematik salomonisch geregelt. 

Da dieser Feiertag ein evangelischer ist, darf jeder Protestant seinem Chef – also dem weltlichen – straflos mitteilen, er bevorzuge einen Gottesdienstbesuch gegenüber der Bürofron, und ohne Diskussion darf er den lieben langen Karfreitag daheim bleiben. Wer aber nichts dergleichen vorbringt, muss halt arbeiten. Die Katholen und alle anderen Nichtevangelen sowieso.

Aus diesem Grund wirkt Wien am Karfreitag unbeeinträchtigt. Die Geschäfte haben geöffnet, die Stadt wimmelt vor Menschen, darunter auch jene, die sich mit der Zusage eines Gottesdienstbesuches einen freien Tag erschummelt haben. Statt erzwungener Bleischwere herrscht der übliche Großstadttrubel. Für uns ein „Segen“, da wir nur drei Tage hier weilen und schon gern ein bisschen was haben möchten von der Stadt.

Der Auftritt unserer Freundin, der Kabarettistin Angelika Niedetzky, findet ebenfalls am Karfreitag statt. In Deutschland würde derlei an diesem speziellen Tag gesetzlich unterbunden, denn die Frau erdreistet sich und macht WITZE! Sie singt und TANZT! Sie ALBERT HERUM!

Damit macht sie uns trübe Tassen wieder munter, denn die Nacht davor war geprägt vom Höllenlärm des Neubaugürtels, einer vielspurigen Rennstrecke, die tagein, nachtaus in nur drei Metern Abstand unser A&O-Hotel zum Beben bringt. Dort waren wir aus Gründen der Preisökonomie abgestiegen, mussten aber erkennen, dass Geiz nicht immer geil ist, sondern manchmal einfach nur hammerhart bestraft wird.

Selbst ein Umzug nach schlafarmer erster Nacht in eine Endetagenbutze, deren Dachluken das Neubaugürtelinferno nicht mehr direkt, sondern nur noch über Eck schallzuabsorbieren hatten, half kein bisschen, weil eine der beiden Luken nicht hermetisch schloss.

Sollten Sie also weder über juvenile Generaltoleranz gegenüber jedweder Umgebungsunbill noch über segensreiche Stocktaubheit verfügen, dann legen wir Ihnen als Übernachtungsalternative das A&O-Schwesterhotel am Hauptbahnhof ans Trommelfell. Die Preise sind identisch, doch dort gibt es sogar die Chance, das zur Verfügung gestellte Bett auch funktionsgerecht nutzen zu können.

Auch in Wien stieß ich beim Flanieren natürlich auf eine Pareidolie, wie es mir wohl überall auf der Welt gelänge, vielleicht abgesehen von der Wüste Gobi. Und schon hatte ich eine Bebilderung für diesen Text.

Wie sich immer wieder alles fügt, es ist erstaunlich.



12 April 2017

05 April 2017

Free Deniz – aber schreibt ihm auch!

Am Palmenplatz – oder wie es im Tourismusbehördensprech heißt: Park Fiction – fand heute am frühen Abend eine Kundgebung aus Solidarität mit dem in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel statt. 

Es war arschkalt da oben über der Elbe, was aber letztlich gut passte zum Objekt unserer Solidarität, welches die Rednerin Silke Burmester nämlich für „arschcool“ hält. 

Ihre Einschätzung stützte sich dabei vor allem auf das bereits ikonografische Yücel-Porträt, das ihn zeigt mit wildem Haar, Rebellenschnauzer und Fluppe im Mundwinkel. Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts! Und das hat der eher Koran- als Popkultur-affine Erdogan wahrscheinlich nicht bedacht, als er Yücel wegen eines Witzes und einer ungenehmen Interviewfrage in den Knast werfen ließ.

Auch Yücels Schwester Ilkay war erschienen. Erst vorgestern hat sie ihn im Gefängnis in Istanbul besucht und konnte berichten, dass er momentan a) wieder schreiben und b) wieder rauchen dürfe. Seine Texte allerdings dürften das Gefängnis nicht verlassen, und lesen dürfe sie auch keiner.

Die Resonanz der St. Paulianer und Hamburger Bevölkerung auf die „Free Deniz“-Kundgebung war übrigens betrüblich. Vor allem, wenn man das mal in Relation setzt – zum Beispiel zur Zuschauerzahl des HSV-Spiels gegen den 1. FC Köln am vergangenen Wochenende, wohin es 57.000 Menschen zog, die dafür sogar noch Eintritt bezahlten. (Ich gehörte dazu.)

Die Yücel-Solidaritätskundgebung auf dem Palmenplatz hingegen war umsonst und lockte dennoch nur eine dreistellige Zahl Interessierter aus der Komfortzone. Darunter übrigens keine Vertreter der großen Hamburger Medien, wie Silke Burmester mit deutlich vernehmbarer Bitterkeit in der Stimme anmerkte. 

Dabei geht es um einen Kollegen, es geht um die Pressefreiheit, es geht darum, den üblichen Erstanwendungen von Diktatorenanwärtern früh entgegenzutreten: der Schwächung von Justiz und Presse. 

Hoffentlich war wenigstens die Welt da, für die Deniz Yücel ja als Korrespondent in Istanbul arbeitete, als er ins Visier der Staatsmacht geriet. Morgen wissen wir (hoffentlich) mehr. 

Die taz, auch ein ehemaliger Arbeitgeber des Inhaftierten, hatte Postkarten drucken lassen, darauf praktischerweise die Knastadresse von Deniz Yücel. Wie es hieß, freue sich Yücel über jedes Schreiben – und sei es nur deswegen, weil es die Poststapel, die ihm nicht ausgehändigt werden, anwachsen ließe und dies wiederum vielleicht den einen oder anderen Schergen ins Grübeln brächte.

Die Adresse lautet folgendermaßen:


Bitte schreiben, bis der Kuli streikt. 
Dem Diktator sollen die Augen flimmern.

04 April 2017

Die beste Show der Reeperbahn ist kostenlos

Die Penny-Filiale auf der Reeperbahn darf seit einigen Jahren nicht mehr an sieben Tagen die Woche ihren Betrieb am Laufen halten, sondern muss leider sonntags dicht bleiben. 

(Ob sich für diese Zwangsmaßnahme die Gewerkschaften oder die Kirche dereinst vor ihrem Schöpfer verantworten müssen, ist mir entfallen. Wahrscheinlich war es eine Koalition der beiden.) 

Jetzt halt nur noch von Montag bis Samstag läuft dort jedenfalls die beste Show auf dem Kiez, und sie ist auch noch kostenlos. Es ist eine Freakshow, und je später der Abend, desto freakiger. 

Zum durch die Gänge defilierenden Kundenensemble gehören Teenies mit verschmiertem Lippenstift, Plappertransen aus der Schmuckstraße, tätowierte Testosteronsammelstellen mit dem Willen zum Billigbier, eher nicht nach Hermès duftende Pfandflaschenzausel, gegelte Hugo-Boss-Typen mit zu engen Kurzsakkos, teigige Prolls in Schnellfickerhosen, die Dicke von nebenan, ältere türkische Herren auf dem Weg zum Kültürverein oder der heimlich Avocados (zer)drückende Hausmann.

Alle sind sie da. Und alle treffen sich spätestens in den zuverlässig langen Schlangen vor den Kassen. Selbst die Leute, die in dieser Penny-Filiale arbeiten, sind bisweilen eher … nun ja, ungewöhnlich. Keine Ahnung, ob sie speziell dahingehend gecastet wurden oder sich im Lauf der Zeit allmählich – Penny-Jahre sind Hundejahre, meine Damen und Herren! – ihrer Klientel annäherten. 

Man darf dabei eins nie vergessen: Jeder, der diesen Laden betritt, wird unweigerlich selbst Bestandteil der Freakshow, ob er will oder nicht. Doch was immer man tut, wie immer man sich verhält, keinen hier kümmert’s auch nur die Bohne – selbst wenn man 30 Tafeln Schokolade auf einmal zunächst aufs Transportband und wenig später in eine Eastpak-Umhängetasche kübelt, nur weil der Einzelpreis heute dramatisch von 1,29 Euro auf 85 Cent abgesackt ist.

Leider selbst getestet.



02 April 2017

Wanderung mit (nur einem) Hindernis


Der Plan war eigentlich super, weil sowohl dem frühlingshaften Wetter wie unseren körperlichen Voraussetzungen adäquat: mit dem Zug nach Timmendorferstrand fahren und von dort immer an der Ostsee lang die ungefähr 13 Kilometer nach Travemünde wandern, von wo aus die Heimfahrt nach Hamburg angetreten würde. Natürlich nicht ohne vorher in Niendorf und möglichst noch einmal auf der Hermannshöhe einschlägige kulinarische Versorgungsstationen um süßschnabelkompatible Leckereien zu erleichtern.

Ein super Plan, wie gesagt, der allerdings bereits auf den ersten Metern zu scheitern drohte. Denn rotweiße Absperrbänder und daneben postierte, nicht selten adipöse Wachtposten in neongelben Wichtig-wichtig-Westen verwehrten uns bereits am Start in Timmendorferstrand den Zugang zur Strandpromenade – und zwar weil sich ebendort Hunderte mehr oder weniger tauglicher Körper keuchend und ohne Not dem Diktat eines sogenannten „Sparkassen-Ostsee-Laufes“ unterwarfen.

Wie ich später auf der Webseite dieser skandalösen Veranstaltung erfahren sollte, war sie sogar entgegen der ursprünglichen Planung eigens auf heute verlegt worden, nur um uns den Sonntag zu vergällen. 

Doch nicht mit uns! Wir wählten bis Niendorf – also ungefähr vier Kilometer lang – eine (leider meerblicklose) Parallelstrecke und schwenkten dann zurück auf die angepeilte, nun von x-beinigen Nummerntrikotträgern nicht mehr kontaminierte Strandroute, von der uns auch bis Travemünde nix und niemand mehr verscheuchen konnte.


Dieser Wanderweg – das glaube ich auch in Unkenntnis von ca. 99 Prozent aller einheimischen Wanderwege sagen zu können – gehört zu den wahrscheinlich zehn schönsten in ganz Deutschland, was vor allem für das Brodtener Steilufer gilt.

Denn links unten in der Tiefe schimmert die Ostsee silbrig unter den Frühlingswolken, während man streckenweise durch einen lichten Laubwald tänzelt, der erfüllt ist von Algendüften, Möwengekreisch und dem Beat der Spechte.

Das ist derart wunderbar, dort werden wir bald wieder langlaufen. Aber nicht ohne vorher im Netz nachzuschauen, ob vielleicht irgendeine dahergelaufene Sparkasse wieder mal die Promenade absperrt.

Man lernt ja dazu.

30 März 2017

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (111)




Gut, die Hasenschaukel in der Silbersackstraße, wo inzwischen die Bar Mad Hatter eingezogen ist, war NOCH gemütlicher. 

Aber ein Schild mit einer derartig objektiven, unanfechtbaren Wahrheit hing damals nicht an der Wand. Und ein Laphroaig in Fassstärke war ebenfalls nicht auf der Karte. Und der Chef hieß nicht Pawel. 

Alles selbst getestet, heute Abend.

23 März 2017

Ohne Worte

Eine Mail von DHL: Mein Paket sei bei einem Nachbarn abgegeben worden, und zwar in Chikos Kiosk, Seilerstr. 45. Unter Nachbar verstehe ich normalerweise jemand im gleichen Haus oder wenigstens in dem daneben, DHL scheint das allerdings ein wenig laxer zu sehen. Aber hundert Meter sind ja mühelos zu bewältigen. Auch vorm Rückweg ist mir nicht bange, denn ich erwarte keine Zwölferkiste Sauvignon Blanc, sondern nur eine Probebrille.

Also auf zu Chikos Kiosk, der mir bislang unbekannt war. Kein Wunder: Die kleinen Läden auf St. Pauli kommen und gehen, man sollte sich besser an keinen von ihnen gewöhnen, das lohnt sich nicht. 

Neben dem An- und Verkaufsladen für gebrauchte Weiße Ware geht es ein zwei, drei Treppen runter ins Souterrain. Ich betrete den winzigen Laden, in dem sich kein Kunde aufhält, aber alter Rauch ruhig weiter vor sich hin erkaltet. Mein Handy zeigt die Mail von DHL. Damit möchte ich bei Bedarf meine Legitimation nachweisen können. 

Ein sehr unrasierter, mit lichtem Haar geschlagener Mann hinter der dominanten gläsernen Vitrine sieht mich, und noch ehe ich den Sachverhalt vortragen kann, ruft er „Chiko!“, statt zu grüßen.

Was an meinem Auftreten verriet nur diesem gewitzten, jedoch nur rudimentär mit sozialen Skills ausgestatteten Menschenkenner, dass nicht er, sondern ausschließlich Chiko mir mit meinem Anliegen, was immer es auch sei, weiterhelfen können wird? Theoretisch hätte ja auch eine Tasse Filterkaffee das Ziel meiner Souterrainträume sein können.

Nach dem Ruf nach dem Chef widmet er sich jedenfalls nicht mehr mir, sondern irgendwelchen Tätigkeiten hinter der Vitrine, während ich warte und mich ein wenig fehl am Platze fühle, so mitten im winzigen Raum, umschwängert von kaltem Rauch. 

Dann aber Auftritt Chiko. Wortlos tritt er ein aus einem Hinterzimmer. Ein nicht großer, nicht kleiner Mann von schwer zu schätzendem Alter, jedenfalls unter 40. Parka, Fünftagebart, die Augen leicht zusammengekniffen, indifferenter Gesichtsausdruck. Und sagt kein einziges Wort. Chiko schaut nur. 

„DHL hat hier ein Päckchen für mich abgegeben“, sage ich und halte ihm das Smartphone hin, „für Wagner.“ Er schaut flüchtig aufs Display und verschwindet im Hinterzimmer. Wortkargheit scheint hier das Geschäftsmodell zu prägen. 

Wobei: Von Wortkargheit könnte man ja erst reden, wenn überhaupt welche fielen, also Worte. Ihre Anzahl ließe sich dann in mathematische Beziehung setzen zur Gesamtdauer der Kommunikation, und wenn man das Ergebnis vergliche mit einem handelsüblichen Durchschnittsdialog, so ergäbe sich in Relation etwas, was unter Wortkargheit kategorisierbar wäre. 

Schweigen allerdings ist mit solchen Kategorien nicht zu fassen. 
Du kannst nichts durch null teilen.

Chiko kommt zurück, in der Hand das Päckchen für mich, den „Nachbarn“. Er hält es mir hin, ich nehme es ihm ab. „Muss ich noch etwas unterschreiben oder so?“, frage ich unsicher. Schließlich muss man immer was unterschreiben, sonst bekäme DHL ein Problem, sonst könnte ich ja behaupten, ich habe das Päckchen gar nicht erhalten, ich könnte straflos Ersatz fordern, und am Ende hätte ich zwei Probebrillen. Oder zwei Zwölferkartons Sauvignon Blanc.

Chiko schließt für eine Millisekunde die Augen, während er mit der linken Hand eine winzige wegwerfende Geste macht. Dann dreht er sich um und verschwindet wortlos wieder im Hinterzimmer. 

Ich werde wohl niemals erfahren, wie Chikos Stimme klingt. 
Wahrscheinlich weiß das nicht mal DHL.



21 März 2017

Die schlechtesten Cover ALLER Zeiten (3–6)


Diese im August 2016 gestartete Serie kommt inklusive des heutigen auf erst drei Beiträge, und das hat Gründe. Schließlich muss ich mich mit viel Widerwillen durch ein Sammelsurium katastrophalster Coverdesigns kämpfen. Längere Erholungsphasen sind zwischendrin unabdingbar; das führt zu Zwangspausen, manchmal auch stationär.

Zugleich führt diese belastende Tätigkeit zu dem dringenden Bedürfnis, möglichst viele der entsetzlichsten Beispiele ein für alle mal loszuwerden, und das geht am besten, indem man sie en bloc verbloggt.

Wie heute. Thematisch beschäftigt sich das hier zu sehende Quartett der Qualen mit dem in der Popgeschichte nicht sonderlich häufig vertretenen Sujet „Nackter Mann“. Gleich der erste Kandidat oben links – verbrochen im Jahr 1968 von Dr. K’s Blues Band – zeigt, warum es gern noch seltener hätte Verwendung finden dürfen.

Man wünscht sich aus mehrerlei Gründen, dieses Herrn niemals ansichtig geworden zu sein. Die Frisur etwa vermag nur leidlich zu überzeugen, von der Farbgestaltung des Motivs ganz zu schweigen. Und was umschwappt den Moppel da eigentlich – ist das Gülle mit Schaumkronen?

Zumindest Grünstichigkeit konnte man Herbie Mann im Erscheinungsjahr seines Albums „Push Push“, also 1971, nicht vorwerfen. Was ihn allerdings bewog, seine kräuselhaarige Hühnerbrust plus Bauchmuskeltotalabsenz und Kraternabel der Welt mit derart grundlos eitler Pose darzubieten, wird man wohl nie mehr erfahren, denn der Flötist verstarb 2003.

Zum Cover unten links fällt einem praktisch nichts mehr ein. Ist das der Glöckner von Notre Dame auf Speed? Ein Yeti nach der Schur? Neandertal Man? Und was steht da hinten rechts Weißes rum?

Fragen über Fragen – die aber Wolfgang Dauner mit seiner covergewordenen Grässlichkeit in noch größerer Zahl aufwirft. Da steckt also ein schlaffer Glühbirnenhirni mit Halstuch den Arm in eine Schraubenmutter, worauf ihm ein Licht aufgeht. Wir würden ja gern diese Metaphorik ergründen, müssen aber leider wie hypnotisiert aufs weihnachtsbaumartig wuchernde Nabelhaar starren.

Besuchszeiten im Sanatorium sind übrigens sonntags und mittwochs. Ich würde mich über Besuche freuen.


Dr. K’s Blues Band: o. T., 1968
Herbie Mann: Push Push, Atlantic 1971
Diverse: You Better Believe It! White Trash Rockers 1955-'69, Panic Records



07 März 2017

„Fahrscheinkontrolle!“

An Murphys Gesetz (was passieren kann, passiert auch irgendwann, und sei es noch so unwahrscheinlich) denkt man leider nie präventiv, sondern immer erst dann, wenn es mal wieder zur Anwendung kommt. Also dann, wenn es zu spät ist.

Heute Morgen stieg ich um zwei Minuten vor 9 mit einer Karte, die ab 9 Uhr gültig war, an der Haltestelle U-Bahn St. Pauli in den 112er-Bus. 120 Sekunden Risiko – statistisch ist so etwas komplett zu vernachlässigen. 

Bitte streichen Sie „komplett“ aus dem letzten Satz, denn kaum, dass der Bus angefahren war – es war exakt 8:58 Uhr –, erhoben sich drei kräftige Herren in unauffälliger Funktionskleidung und sagten jenes Wort, das man als Besitzer einer ab 9 Uhr gültigen Tageskarte zu diesem Zeitpunkt keinesfalls hören möchte: „Fahrscheinkontrolle!“

Als einer der drei, ein wohlbeleibter Herr mit Brille und recht liberaler Einstellung zur Akkuratesse seiner Rasur, an meinen Sitz trat, aktivierte ich das größte mir mögliche Quantum mimischer Arglosigkeit und hielt ihm mit lässiger Eleganz mein Handydisplay hin.

Er schaute drauf, mich an, stutzte und sagte: „Sie dürfen erst ab 9 Uhr fahren.“
„Oh“, machte ich.

Auf seiner Stirn bildete sich eine Sorgenfalte. Parallel zerknautschte ein Ausdruck vorwurfsvoller Zerknirschung seine Mimik. Auch Bedauern und Mitleid schienen mir in diesem Gesichtsschauspiel mit Nebenrollen betraut zu sein. 

„Das kostet eigentlich 60 Euro“, sagte er und schaute hinter mir den Gang entlang. 
„Hm“, machte ich bang.

Allerdings ließen sowohl das verehrungswürdige, Gnade vor Recht verheißende Adjektiv „eigentlich“ als auch sein schweifender, an mir auf wohltuende Weise desinteressierter Blick Hoffnung keimen. 

Seine beiden Kollegen weiter vorne im Bus hatten bereits zwei Männer in der Mangel, doch ich schien – obzwar vollumfänglich schuldig im Sinne der Beförderungsbestimmungen – den Jagdinstinkt meines Kontrolleurs nicht zu wecken. Inzwischen war es Punkt 9 Uhr, wir hielten an der Handwerkskammer – und dieser Gandhi unter den Hochbahndetektiven ließ mich vom Haken und links liegen.

Habe ich schon erwähnt, dass er ein liebreizender Knuddelbär war? Dass HVV wahrscheinlich gar nicht die Abkürzung für „Hamburger Verkehrsverbund“ ist, sondern für „Herzensgüte Vor Verurteilung“? Dass Murphys Gesetz mir hinfort und immerdar heilig sein wird? Dass gute Rasuren völlig überschätzt werden?





24 Februar 2017

Der Unterschied zwischen Vögeln und vögeln

Neulich beim Lunch bei meinem Lieblingsgriechen im Mittelweg stach mir das Cover einer dort herumliegenden alten Ausgabe der Zeitschrift „Welt vegan“ ins Auge. Dies vor allem wegen der so irritierenden wie vielversprechenden Schlagzeile „Vegan Vögeln“ (sic!). Was meinte die Redaktion wohl damit?

Zunächst dachte ich an einen peinlichen Rechtschreibfehler und nahm an, in Wahrheit seien „Vegane Vögel“ gemeint, also welche, die auf Mücken und Würmer verzichteten und deshalb aus Sicht des Magazins innerhalb der Gattung der Federtiere besonders förderungswürdig seien. Zumindest mehr als Adler oder Enten, die anscheinend noch nicht so weit sind. 

Dann aber dämmerte mir, dass die Schlagzeile „Vegan Vögeln“ lediglich dank der mangelnden Groß-/Kleinschreibungsskills der Redaktion an der Verdeutlichung ihres Sujets scheiterte. Es ging bestimmt nicht um eine der artenreichsten Klassen der Wirbeltiere, sondern um: menschlichen Matratzensport.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen in dieser Situation gegangen wäre, aber ich musste dringend die Zeitschrift zur Hand und den entsprechenden Artikel in Augenschein nehmen. Denn ist nicht veganes Vögeln per se paradox, da doch dabei gewöhnlich ordentliche Fleischportionen involviert sind und manchmal sogar proteinreiche Stoffe inkorporiert werden? Oder meinten die etwa Sex mit Puppen?

Nein, wie sich beim Lesen herausstellte; sondern Kondome, Gleitgel und Sexspielzeuge ohne tierische Inhaltsstoffe. Die Autorin „Einhorn Linda“ (sic!) empfahl zum Beispiel bei der Wahl der Hilfsmittel auf Lederriemen zu verzichten. Ihr Alternativvorschlag: Fahrradschläuche.

Die generelle Voraussetzung aber, um überhaupt in den Infight gehen zu können, stellte Einhorn Linda klar, sei für sie eine vegane Lebensweise. Denn sie könne überhaupt keinen Sex haben, wenn ihr „Gewissen voller Massentierhaltungsszenen“ wäre.

Eine lohnenswerte Lektüre also. Und alles nur wegen eines Rechtschreibfehlers! Nur die olfaktorische Halluzination, die vom Gedanken an Fahrradschläuche ausgeht, würde ich gern wieder los. Am liebsten bald.


PS: Die oben abgebildeten Vögel leben nicht vegan. Trotzdem scheinen sie sehr befriedigenden Sex zu haben, wenn man die alljährlichen Nachwuchsraten betrachtet. Es geht also!