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26 April 2023

Nur Luden sterben arm

Neulich fragte mich ein Blogbesucher nach meiner Meinung zur Amazon-Prime-Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“, und ich musste gestehen, sie bisher nicht gesehen zu haben. Mein Interesse hält sich – nach allem, was ich darüber gelesen habe – auch in Grenzen. Noch eine Serie, die Zuhälter als irgendwie cool und ihren Lifestyle als erstrebenswert darstellt? Das macht so müde.

Zudem bin ich auch als Betreiber eines Blogs namens „Rückseite der Reeperbahn“ nur unzureichend kompetent, um eine Fiktionalisierung glaubhaft mit der Kiezrealität abgleichen zu können. Es gibt ja (mindestens) zwei St. Paulis: das Rotlichtmilieu und das Wohnviertel. Und ich tummle mich seit einem Vierteljahrhundert ganz überwiegend in Letzterem.

Meine Berührungspunkte mit dem Rotlicht sind an einer Hand abzuzählen. Einen echten Luden habe ich zum Beispiel nie kennengelernt. Ich sehe ab und zu Corvettes und Lamborghinis in der Straße parken (hier ein Bild von letzter Woche), aber gehören sie auch wirklich einer Rotlichtgröße? Gerichtsfeste Beweise fehlen. Bei einem Bier im La Paloma lernte ich mal eine Prostituierte kennen, die gerade Pause machte und mich und meinen Begleiter um eine Cola anschnorrte. Sie erzählte uns von ihrer Jugend in Ostdeutschland, was sie nach Hamburg verschlagen und wie sie ein Auskommen im Rotlichtviertel gefunden hatte. Eine freundliche junge Frau, die sich für die Cola bedankte und wieder zurückging an die Arbeit in der Davidstraße.

Persönlich kenne ich nur die nicht nur leicht schillernde Kiezgröße Kalle Schwensen. Der Kontakt kam beruflich zustande. Ich war Musikjournalist, und Kalle hatte die wiedervereinigten Tic Tac Toe am Start. Zeitweise informierte er mich via Facebook über seine Veranstaltungen wie Freistilboxen und Ähnliches.

Zweimal bin ich Kalle Schwensen in natura begegnet, und seither meide ich den Kontakt – vor allem deswegen, weil sein größter Ehrgeiz darin zu bestehen scheint, einem bei der Begrüßung den Mittelhandknochen zu brechen. Muss nicht sein. Auch dass er als selbst ernannter Welterklärer zuletzt mit Corona-Verschwörungsfantasien verhaltensauffällig wurde und Wolodymyr Selenskyj und Annalena Baerbock für europäische Großverbrecher hält (nicht aber Putin), spricht kaum dafür, den Kontakt zu reaktivieren.

Im Fitnessstudio begegnete mir ab und zu mal Inkasso-Henry, der in seiner großen Zeit für Luden Geld eintrieb. Henry ächzte und keuchte beim Bankdrücken wie ein Pottwal mit Katarrh. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf, und dann las man Nachrufe auf ihn – wie jetzt auf den einstigen Nutella-Gang-Luden Klaus Barkowsky, der gestern früh vom Balkon seiner Wohnung in Altona gesprungen sein soll. Unter anderem seine Geschichte erzählt die erwähnte Amazon-Prime-Serie.

Was auffällt bei solchen Geschichten über Kiezgrößen, die sich einst die Zigarren mit Hundertmarkscheinen anzündeten: Die meisten (oder alle?) wurden arm, und sie sterben arm. Wo sind all die Millionen hin, die junge Frauen auf St. Pauli für sie erwirtschaftet haben? Jede Ludengeschichte, die ich je gehört habe, endet traurig, tragisch, deprimierend. Die Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“ dürfte diesen Aspekt ihres Lifestyles aussparen. Aber wie gesagt: Ich habe sie nicht gesehen.

Wer sich hingegen bis heute mit cleveren Aktivitäten immer über Wasser halten konnte, ist Kalle Schwensen. Aktuell betreibt er einen anscheinend gut frequentierten Sadomasoklub in der Erichstraße. Aber Kalle ist ja auch kein Lude. Vielleicht bietet das die beste Chance, auf St. Pauli nicht arm zu sterben.



01 Januar 2023

Jan Fedder hätte das gefallen


Die Abendstimmung gestern an der Jan-Fedder-Promenade hätte ihr Namensgeber sicherlich goutiert – wie auch die Tatsache, dass überhaupt eine Hamburger Promenade nach ihm benannt wurde.


22 September 2019

Ich hatte ein Wristband!

Das Reeperbahnfestival sorgt seit 14 Jahren jeden September für Feiertage auf dem Kiez – genauer gesagt taten das die diesmal 50.000 Indiefans, die von Mittwoch bis Samstag durch die auf der Karte zu sehenden Clubs zogen. Darunter ich. 

Dank meiner Akkreditierung war ich dieses Jahr ein „Wristbandholder“ und hoffte, dass mein Wristband vier Tage Höchstbelastung (darunter Duschen) aushalten würde, ohne abzufallen. Dann wäre ich nämlich aufgeschmissen gewesen.

Diesmal hatte ich mir nur ein loses Programm zusammengestellt. Ich wollte mich einfach quer durch St. Pauli treibenlassen – von Gig zu Gig, von einem (mir unbekannten) Act zum andern. Doch so einfach war das nicht. Im Pooca am Hamburger Berg machte ich gleich wieder kehrt, als ich drinnen auf Menschen mit glühenden Zigaretten stieß. Für so was bin ich einfach zu alt (obgleich ich es als Kind noch erleben durfte, wie die Erwachsenen sogar im Auto rauchten, bei geschlossenen Fenstern und mir auf dem Rücksitz).

Vor einigen Clubs stieß ich auf grimmige Türsteher, die „Einlassstopp!“ grummelten, was auch schon längst per Pushnachricht auf meinem Smartphonebildschirm aufgeploppt war, aber dank des gegenüber normalen Kiezabenden noch mal deutlich dezibelreicheren Grundbrummens rundherum war mir das entgangen. Zwar hätte ich mir als offizieller Wristband- und Akkreditierungskärtchenholder trotzdem Zutritt verschaffen können, doch mich in einen brechend vollen Laden zu quetschen, wo ohne Bazooka weder Theke noch Klo in absehbarer Zeit erreichbar gewesen wären, dafür bin ich – Sie ahnen es – zu alt.

Problemlos gelang indes das Entern des Sankt-Pauli-Museums, vor dessen Eingang ich vergangenes Jahr Günter Zint bei seiner Attacke auf ein Verkehrsschild ablichten konnte. Dort sang der isländische Singer/Songwriter Teitur Magnússon, ein rotbärtiger Nordmann mit Pelzmütze, aber verblüffend elfenähnlicher Bübchenstimme. Wenn wirklich Gott die Menschen – und somit auch Herrn Magnússon – erschaffen hat, dann muss man sagen: ER hat Sinn für Humor.

Im Moondoo an der Reeperbahn stieß ich auf die junge, dünne argentinische Elektrokünstlerin Catnapp. Ihre Schläfen waren rasiert, dafür wippte ein einzelner langer Rastazopf im Rhythmus kalter blauer zuckender Strahler und dem reeperbahnerschütternden Beben ihrer Breakbeats und -bässe. Es war faszinierend. Im Berliner Berghain soll sie eine große Nummer sein. Hoffentlich trägt sie regelmäßig Ohrstöpsel, sonst geht es ihr irgendwann wie Sven Väth.

Freitag dann Elbphilharmonie. Zwar passt der Kulturtempel nur suboptimal zu einem Festival, das vor allem auf kleine Clubs und Indiekünstler setzt, doch wie könnte ich das bemäkeln, wenn dort die schwedische Songwriterin Anna Ternheim auftritt, die ich seit ihrem ersten Album verehre (Näheres dazu in diesem Buch)? 

Der schwarze Herrenanzug, den sie trägt, umschlottert sie derart, dass ich die Journalistin, die neben mir sitzt und Ternheim erst neulich interviewt hat, frage, ob diese damit ein eventuelles Untergewicht zu kaschieren trachte. Das sei sicher nicht so, heißt es, Ternheim sei sehr normalgewichtig.

Mit Sicherheit ist sie auch sehr duldsam mit dem unbotmäßigen Verhalten ihres blonden Schopfs. Hätte ich eine Frisur, die mich dazu zwänge, mir alle acht Sekunden die Strähnen aus dem Gesicht zu wischen, ich legte mir augenblicks eine gänzlich andere zu. Andererseits verfügte ich als jemand, der sich seine spärlichen Reststoppel zweimal die Woche auf einen halben Millimeter Länge runterkürzt, gern über ein solches Luxusproblem.

Ternheim jedenfalls wischt sich während ihres Auftritts hochgerechnet circa 600-mal die Haare aus dem Gesicht, derweil das sie begleitende Kaiser Quartett ihre schönsten (und leider auch einige mittelprächtige neue) Songs in apartesten Kammerpop kleidet. Hätte Ternheim statt des herumrumpelnden Drummers einen Perkussionisten dabeigehabt, das Ganze wäre als Zauberabend in die Reeperbahnfestivalgeschichte eingegangen. Das Publikum war trotzdem euphorisiert bis zum Aufspringen und mehrfach Zugabefordern.

Genau so wie das des kanadisch-ukrainischen Pianoschrats Lubomyr Melnyk am Samstag in der St.Pauli-Kirche. Der 71-Jährige, ein leicht berberhaft wirkender Grauzausel in ausgebeulter Cordhose, ist sozusagen das missing link zwischen Rachmaninov und Steve Reich, nur dass er schneller spielt als Lucky Lukes Schatten. 

Damit schafft Melnyk wellenartig dröhnende Klangmuster, von denen er behauptet, die (für ihn eh verdammenswerte) Digitaltechnik sei zu träge, um sie adäquat aufzunehmen. Warum der Mann an seinem Verkaufsstand trotzdem neben Vinyl auch CDs anbietet, gehört zur Dialektik dieses Festivals – des weltweit besten von ganz St. Pauli, wenn nicht des ganzen Planeten.

Mein Wristband hat übrigens vier Tage lang durchgehalten. Gegen die Schere Samstagnacht war es aber hilf- und machtlos.



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13 September 2019

Endlich sorgenfrei!

Neulich stand ich in Potsdam sehr ratlos vorm Eingangsportal von Schloss Sanssouci und rang um Fassung. Schuld daran war der brachiale Kommafehler, der die Fassade hochprominent kontaminierte. Das tut er, wie mir zugetragen wurde, schon seit zweihundertzweiundsiebzig Jahren.

Zweifellos ist diese voll in die royale Verantwortung fallende Fehlleistung dazu angetan, das ansonsten doch recht beachtliche Lebenswerk des Schlossbauherrn Friedrich des Großen unschön zu überschatten. Zumindest in meinen Augen. 

Dabei hätte es durchaus Eingriffsmöglichkeiten gegeben. Klar, rechtschreibkundige Hofschranzen haben sich damals natürlich nicht getraut, das Maul aufzumachen. Aber warum bloß hat Friedrichs Freund Voltaire ihn beim immerhin vier Jahre andauernden Besuch in Potsdam dafür nicht wenigstens an einem weinseligen Abend böse ausgescholten? Auch der französische Philosoph büßt in diesem Zusammenhang, wie ich zugeben muss, viel an Nimbus ein. Der Mann hätte unbedingt intervenieren müssen, gerade als Muttersprachler!

Heute an der Simon-von-Utrecht-Straße in St. Pauli gemahnte mich ausgerechnet die beschriftete Seite eines parkenden Lkw erneut an Friedrich und Voltaire und diesen gruseligen Moment in Potsdam, den ich längst erfolgreich verdrängt zu haben glaubte. „Echte Kerle, trinken Elbperle“ – da rollen sich dir doch sämtliche Fuß- und Fingernägel auf! Und mir auch!

Es sei denn, derjenige, der sich diesen Werbespruch zurechtdengelte, vertraut auf die intelligente Hintersinnigkeit des vorbeiflanierenden Um-die-Ecke-Denkers und dessen Fähigkeit, die subtile Anspielung auf die Potsdamer „Sans, souci“-Kommakatastrophe zu dechiffrieren. 

Immerhin heißt „sanssouci“ auf Deutsch sorgenfrei, und womit ist dieser Zustand nun mal besser herzustellen als mit einer geexten Gallone Elbperle?

Und siehe da: Plötzlich ergab alles einen Sinn. 
Und sogar einen Blogbeitrag.



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02 April 2019

Dort, wo einst John Lennon stand


Der virtuose New Yorker Photoshopzauberer Robert Egan sucht seit vielen Jahren die Aufnahmeorte berühmter Filmszenen, Fotos und Albumcovers auf, um auf seiner Webseite zu zeigen, wie es heute dort aussieht. Dabei verschmilzt er auf kunstvolle Weise das Originalmotiv mit dem Hier und Jetzt. Die Zeit und Raum und Abrissbirnen transzendierenden Rekonstruktionen Egans sind von derart liebevoller Akribie, dass man sich glatt langlegt vor Respekt. 

Wer begreifen will, mit wie viel Energie und detektivischem Aufwand Bob vorgeht, schaue sich nur mal seine Spurensuche zum Coverfoto von Bob Dylans Album „Blonde on Blonde“ an. Zweifellos: Der Mann ist ein – ach was: der – Forensiker der Popgeschichte! Inzwischen hat er sogar einen eigenen Reiseführer herausgebracht, der Nostalgiker und Aurasucher auf den Spuren seiner Recherchen kreuz und quer durch New York schickt.

Kurz: Ich liebe Bobs Arbeit und Webseite. Vor einiger Zeit kam ich mit ihm ins (Mail-)Gespräch über Jürgen Vollmers berühmtes Beatles-Foto von 1961, das es 1975 aufs Cover des John-Lennon-Soloalbums „Rock’n’Roll“ geschafft hatte. Der Aufnahmeort in der Jägerpassage, ein Hofeingang der Wohlwillstraße auf St. Pauli, ist seither ein von Touristen aus aller Welt gern frequentierter Kultort. (Die Hausbewohner sehen das verständlicherweise ein wenig anders, wie ich bereits am eigenen Leib erfahren durfte.)  

Bob Egan jedenfalls war a) erpicht darauf, auch dieses Foto zur Basis eines seiner Projekte zu machen, aber b) nun mal in New York statt auf St. Pauli. Deshalb Auftritt Matt: Er bat mich, Panoramafotos der Jägerpassage anzufertigen, was mich erneut dazu brachte, herzklopfend den torgeschützten Hinterhof zu betreten. Und dann fragte er auch noch nach einem Video*, um die Umgebung näher kennenzulernen. Wie gesagt: Der Mann ist akribisch.

All diese Aufgaben übernahm ich klaglos und bewältigte sie zudem zu seiner Zufriedenheit – und seit gestern ist nun Bob Egans neustes Werk fertig: die Vorher-Nachher-, Gestern-und-heute-Rekonstruktion eines der berühmtesten Fotos der Popgeschichte, with a little help from his friend Matt. Samt Video.

Wie es übrigens vor einigen Jahren zu meiner hellsten Freude dazu kam, dass der Fotograf dieses ikonischen Beatles-Bildes mir einen Abzug desselben ebenso signierte wie meine nachgestellte Kopie, das steht alles hier.

*Das Video wirkt übrigens deshalb ein wenig holprig in puncto Kameraführung, weil ich mich an jenem Tag mit einem Muskelfaserriss durch die Wohlwillstraße schleppte. So viel zu meinem Einsatz für die Kunst.




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09 Februar 2019

Grauenvoll witzig: Ernst Kahl zum 70.

Dass Ernst Kahl, dieser geniale Struwwel-, Schlau- und Kindskopf, am 11. Februar schon 70 wird, klingt nicht nur surreal, sondern sollte auch unbedingt mit einem bundesweiten Feiertag begangen werden. Steinmeier, wie isses? Die unwiderlegbare Begründung dafür folgt unten in meinem Porträt über den Künstler als mitteljunger Mann, das zwar schon 1997 entstand, aber vor allem dank seines Protagonisten in Würde gereift ist. 

Die Caricatura in Frankfurt hat die Feiertagsidee beherzt aufgegriffen und sie völlig zurecht gleich auf ein ganzes Vierteljahr ausgelegt. So lange nämlich läuft die Ausstellung, die dem Giganten Ernst Kahl gewidmet ist, und wer im Umkreis von 600 Kilometern drumherum wohnt und sie nicht aufsucht, der wird sich dereinst vor seinem Schöpfer für dieses Versäumnis verantworten müssen. 

Nun aber zu meiner feuchtfröhlichen Ernst-Kahl-Homestory – eine aufrichtigere  Gratulation habe ich nicht in petto. Und vor allem keine wortreichere.



Komik ist Notwehr


Was kann Ernst Kahl eigentlich nicht? Gerade ist ein Kunstband erschienen, der ihn als Klon aus Busch, Magritte, Caspar David Friedrich und Hitchcock ausweist. Aber Kahl ist auch Musiker, Drehbuchautor, Humorist und Kolumnist. Was bleibt, wenn man all das wegrechnet? Ein Hausbesuch soll Klarheit bringen.


Wer zu Ernst Kahl will, muss in einen Hamburger Hinterhof. Der Gang dorthin ist dunkel – dass bloß der australische Chardonnay, den man vorsorglich dabei hat, nirgends aneckt! Denn Kahls Stimme am Telefon hob sich merklich, als man das geistige Mitbringsel erwähnte. „Flasche Wein? Eigentlich hatte ich heute Abend zwar einen Termin mit einer balinesischen Tempel- und Nackttänzerin, aber für einen australischen Chardonnay lasse ich alles stehn.“

Bei Kahl sieht es nach Bombenterror oder brünstigem Hauskater aus. Der legere Hausherr im gerippten Pulli ist damit sehr zufrieden. „Ich habe gerade ein wenig aufgeräumt“, sagt er nicht unstolz. Jeans liegen auf der Heizung, in den Ecken Gitarren. Herum hockt protzig ein Schlagzeug. Wir sind in Kahls Wohnzimmer, das auf eine kunstlose Art nicht eingerichtet ist. Kahl ist völlig unspießig, aber nicht aus Ideologie. Er findet einfach nichts dabei, wenn Stühle dastehen wie vom Spediteur vergessen. Wenn Boden und Tisch mit Blättern unterschiedlicher Wichtigkeit bestreut sind. Wenn die Wände alle kahl sind und nicht voller Kahls.

Sollte seine junge, frische Freundin hier mal einziehen, was sie sich durchaus vorstellen kann und Kahl auch schon ein bisschen, dann will sie zuerst Struktur ins Chaos bringen. Das wäre dann die erste Struktur, mit der er leben könnte. Vielleicht. Hier haust offenbar ein Bohémien, vielleicht auch ein Chaot oder ein Bettler oder einer, der alles zusammen ist – aber doch keiner, dem der Filmproduzent Bernd Eichinger für eine Woche Drehbuchschreiben mal eben 10 000 Mark überweist, obwohl das Ding dann doch nicht verfilmt wird.

Ja, der Herr Kahl: ein verwuselter Wohner, aber ein genauer, manischer und verlässlich kreativer Kunstarbeiter. Drei Wochen lang hat er gerade gepinselt wie ein Galeerensklave, weil in Bochum eine Strindberg-Premiere seines Freundes Detlev Buck droht und im Schauspielhaus pünktlich echte Kahls hängen sollen. Alte Bilder malte er dafür groß nach. „Winzige Boshaftigkeiten auf große Formate – und plötzlich kriegen die was Klassisches“, wundert er sich. Winzige Boshaftigkeiten? Kahl meint Bilder wie „Mondscheinidyll“. Drauf ein Gör mit blutverschmiertem Mund, daneben ein Kampfhund mit durchbissener Kehle. „Das ist ganz merkwürdig“, sagt er ernst. „Niemand würde sich trauen, so ein Motiv ganz groß zu malen.“ Niemand außer Kahl.

Wissen die Bochumer eigentlich, welche Kulissenschocker da auf sie zukommen? Kahl grinst genüßlich und tut, was er unablässig mit seiner weitläufigen Bude tut: Er qualmt sie voll. „Ich glaube nicht. Fürs Theater ist es wahrscheinlich schon ein Hammer. Es hat eine … banale Hintergründigkeit. Dadurch, dass ich lakonisch und banal die absoluten Grausamkeiten beschreibe, haben sie etwas Alltägliches. Nicht wie Helnwein, der schockieren will mit richtigen Schmerzbildern. Meine sind ohne Blut, ohne Grauen, aber witzig. Viele werden sagen: Das ist doch keine Kunst. Aber diesen Kampf nehme ich gerne auf. Es wird Zeit, dass das Absurde und Komische Eingang in die Kunst finden. Beim Lachen hört die Kunst auf, und das ist ein Witz.“

Nach der wochenlangen Malorgie, zu der er sich gar die Matratze ins Atelier holte, kann Kahl kaum noch stehen. Er stakst einher wie ein Storch. Alle zwei Tage ein Bild, davor die Produktion des voluminösen Bandes „Kahls Künste“, zwischendurch Songs schreiben, sie mit Kumpel Hardy Kayser aufnehmen im kleinen Heimstudio, Konzerte geben, das Drehbuch für Wigald Bonings ersten Kinofilm „Die drei Mädels von der Tankstelle“ schreiben (Start: 12. Juni): Jetzt ist er schlapp, der Kahl.

Ein Wunder, dass er noch zum Aufräumen gekommen ist. Ein Wunder auch, dass das Telefon den ganzen Abend nicht klingelt. Aber Kahl ist ein Voodoopriester auf intuitivem Feldzug gegen funktionierende Technik. Wenn er kommt, versagen CD-Player, Platten gehen kaputt. Nacheinander werden sich heute abend vier Batterien weigern, das Aufnahmegerät zu betreiben. „Die Technik“, sagt der computerlose Kahl befriedigt, „mag mich nicht. Und ich mag die Technik nicht.“

Er ist jetzt 47 und berühmt. Seine Bio im Zeitraffer: in Kiel geboren, Kinderlähmung mit vier, zwei Lehren geschmissen, mit 17 von zu Hause abgehauen, Kunststudium in Hamburg an- und abgebrochen, Bildersammlung in der S-Bahn vergessen, Hilfslehrer auf der Hallig Hooge, nach vielen, auch amourösen, Wirren zurück nach Hamburg.

„Bin vom Leben“, grinst Kahl, „mit rauer Zunge beleckt worden.“ Zu den karrieregefährdenden Defekten der frühen Jahre gehörte nicht nur eine solide Grundrenitenz gegen „Strukturen“, sondern auch eine handfeste Paranoia. Die wurde er irgendwann wieder los, seinen Schiss vor Prüfungen dagegen nie. Bis heute examinierte noch keine Kommission dieser Welt den Kahl. Damals, auf der Kunsthochschule, haben sie ihn dank der mitgeführten Mappe genommen. Rechtzeitig vorm Abschluss schlich er sich.

So einer hat auch keinen Führerschein. Wenn man ihn fragt, warum, erzählt er immer, er sei mal mit dem Auto in eine Fußgängergruppe gerast. Drei Tote, aber nicht seine Schuld – Getriebeschaden halt. Dann genießt er die Betretenheit und grinst sich heimlich eins – Kahlscher Humor. Aufgeklärt wird die Schauermär natürlich nie.

Nicht nur wegen seiner Prüfungsangst wird Kahl kaum noch zum Führerschein kommen; er ist einfach ausgelastet bis zum Nichtmehraufräumenkönnen. Bei dem, was er so alles macht, wird einem ganz schwindlig, und dabei ist der Wein gerade erst entkorkt.

Kahl malt und zeichnet, mal wie ein alter Meister, mal kunstvoll ungelenk wie ein Pennäler; Kahl schreibt, singt, macht dies und das und irgendwie alles richtig. Ist die Zeit der Universalgenies nicht vorbei? War nicht circa Goethe der letzte, der dichtete, dokterte und kritzelte? Kahl macht das auch, nur komischer, respektloser. Der Clash der Hoch- und Tiefkulturen – wenn Kahl kommt, rasselt es richtig. Er, der ein Traktat mal ironisch „Die kleine Kunst des geraden Blicks“ taufte, ist nämlich ein Kreuz-und-quer- und Drunter-und-drüber-Gucker.

So verblüffend leicht er auch zwischen Vermeer und Disney, zwischen Karl Kraus und Heinz Erhard changiert, so wenig achtet er den Ernst der Lage. Nach allem, was so rauszulesen und -lachen ist aus seinem Werk, ist Kahl ein Nihilist.

Man stößt auf Mönche, die Tote begatten, und auf Kinder, die Lehrer enthaupten. Keine Werte, nur Werke? Ein Gott nach Kahlschem Gusto muss ein Freak sein. „Gott?“ japst Kahl. „Unvorstellbar für mich. Ich arbeite gerne mit Klischees, die es über Religion gibt, um zu irritieren. Aber so überstark, dass sie schon wieder komisch sind.“ Als Knabe sang er im Chor, doch kurz nach der Konfirmation sagte er Tschüs zur Kirche. Der Pastor versuchte noch, ihm ins Gewissen zu reden. Nützte nichts: Kahl hatte gar keins.

Ihm scheint nichts heilig zu sein. „Ein völlig falscher Eindruck“, wehrt er ab. „So vieles ist mir heilig – ich versinke in Ehrfurcht davor. Nehmen wir die Punks mit ihrer Hoffnungslosigkeit und zugleich ihrer ganzen Liebe. Die sind mir heilig: die Parias unserer Gesellschaft.“

Ernst Kahl ist das, was Kris Kristofferson mal über Johnny Cash sagte: „a walking contradiction“. Nichts an ihm ist stimmig. Kahl hat keine Glatze, und Ernst ist witzig. Und sein Spaß fängt da an, wo er gemeinhin aufhört. Dabei will er gar kein Wadenbeißer mit Ansage sein wie Wiglaf Droste. Nur sich lustig machen über „Strukturen“, wie er alles nennt, was einengt, niederdrückt oder uns Blödsinn nachplappern lässt.

Das kostete ihn 1989 den Job beim Politmagazin Konkret. Wegen Rassismus. Was hatte er getan? Den linken Kuscheltierblick auf Ausländer veralbert, indem er eine Galerie malte mit Ausländern, die wählen dürfen sollen und solchen, die nicht; und letztere waren dann alles Verbrecher und phsyiognomisch Missratene. Da durchfuhr ein „Huch!“ die Redaktion, und ihren Rat kann Kahl bis heute auswendig hersagen: „Auf die Deutschen kannst du einhauen, wie du willst“, beschied man barsch, „aber nicht auf die Ausländer!“

Die Satirezeitschrift Titanic füllte die publizistische Lücke, Kahl dagegen keine Konkret-Seiten mehr. Inzwischen hat er auch mit den Titanic-Leuten Probleme: „Das sind alles Oberschüler. Kein Platz für einen einfachen Scheißwitz, der nicht intellektuell sein will.“

Einen wie den, den Kahl mal malte: Hängt ein Spiegelei am Himmel, und drunter steht – „Ei in the sky“. Ein echter Kahlauer. Oder den: Liegt eine verreckende Vettel im Sterbebett, Gevatter Hein steht schon am Bettpfosten, und sie begrüßt ihn in letzter Lüsternheit mit: „Tod, wo ist dein Stachel?“

Zeit, mit Kahl über Kunst zu reden. Er zeigt auf einen Pflasterstein in der Ecke, auf dem eine Steinkugel liegt. Nicht irgendeine, ein Mahlstein aus der Steinzeit. „Ist das Kunst?“ fragt er rhetorisch. „Ich könnte es auch auf einer Ausstellung für sich selber sprechen lassen.“

Heute nacht noch, nach dem Chardonnay, will er irgendwo im Viertel ein komisch geformtes Holzstück auflesen, das ihm mittags beim Spaziergang auffiel. „Ein Stamm mit ner Gabel“, erinnert er sich. „Sieht aus wie eine früheisenzeitliche Götterstatue, die sie in Schleswig manchmal aus dem Moor holen. Das wird hier irgendwann stehen.“ Aber Kunst? Jedenfalls Kahl-genehm. Genau wie das Morbide, Böse und Banale, wie Perfides und Peinliches, Plattes und Naives, die Zote, das Hochkünstlerische und der Kalauer. Bei ihm koexistiert all das durcheinander. Deshalb eckt er oft an, nicht nur bei Snobs.

Kahl ist ein Toleranzgrenzentrüffelschwein. Wie erleichternd, dass selbst so einer seine Vorurteile hat. „War heute beim Griechen essen. Da lief so eine Blubberhiphopscheiße, so ‘n Kommerzquatsch. Ich bin richtig explodiert.“ Dem Kahl kann man nur mit Stones kommen und Animals. Der Grenzverletzer und Genrevermischer, der noch jedes Idyll per Pinselstrich gekillt hat: Hier ist er dogmatisch. Hier gilt das Wahre, Schöne, Gute, nicht der Hip von heute. Seine eigenen Songs sind niedliche Pseudo-Kinderlieder („Die rüstige Frau Reimann/sieht aus wie Billy Wyman/Marie, die alte Fotz/geht weg als Charlie Watts“). Sie haben Plinkergitarren und hopsigen Takt. Und zwischen zwei Endreimen flieht bisweilen ein Einsamer zur tiefgefrorenen Lieblingsleiche.

„Es kommt immer darauf an, wie man sich einem Thema nähert“, findet der Geist, der sich solches ausdenkt. „Unbeholfen etwas Gemeines erzählen, kommt konspirativer daher.“ Das versteht nicht jeder. Kahl ist vielen ein Rätsel. Wie und was er malt und schreibt: Das beflügelt die Fantasie über den Urheber. Dabei ist er keiner, der Drogen braucht, um ein schlangenjagendes Karnickel zu visionieren. Nein, mit koksgetrübtem Blick wäre die sich dahinter perspektivisch perfekt verlierende Landschaft nicht zu schauen und nicht zu malen. Für so etwas musst du wach sein. Und eine Hand haben, die nicht zittert.

Max Goldt, das hat Droste ihm geflüstert, hält Kahl für einen bitterbösen Menschen. Das versteht er kein bisschen. Vielleicht hat Goldt zu lange vorm Gemälde „Abendfrieden“ gestanden, wo eine Familie unter einem Galgen rastet, an dem noch ein Gehenkter baumelt. Und helle, wie Kahlsche Bilderkinder sind, haben Brüder- und Schwesterlein der Leiche ein Brett zwischen die Füße gebunden, damit sie als Schaukel taugt.

Kahl travestiert das Erhabene durch das Gemeine, meint eine Exegetin. Macht ihn das bitterböse? „Nein, wirklich nicht“, sagt Kahl, „für mich ist das Lebenshilfe, Dinge absurd zu betrachten. Komik ist Notwehr.“ Gegen Strukturen natürlich.

Alle Kunst und Komik schöpft er aus sich selber, denn er konsumiert die Kinkerlitzchen der Konkurrenz nicht. Wie bei so wenig Input soviel herausfließen kann, ist das größte Rätsel. Durchs Dauerknutschen mit Kahl will die Muse wohl ins „Guinness Buch der Rekorde“. Und sie steckt ihm wirklich komische Sachen. Einem Kasseler documenta-Funktionär schlug Kahl vor, den Bahnhofsvorplatz umzugestalten, dies jedoch von Pygmäen tun zu lassen. „Fragt der Typ nach der Aussage“, feixt Kahl. „Und ich sage: Scheiß auf die Aussage! Ich find‘s einfach klasse!“

Nein, Kahl ist kein Intellektueller. Wer mit ihm über die Bedeutung des Kreises im Spätwerk Kandinskys reden will, kriegt einen Korb und Chardonnay nachgeschenkt. Kahl weiß ja nicht, was Kunst ist. Er weiß nur, was dabei herauskommt, wenn er etwas klasse findet.

Und das reicht wahrscheinlich für die Unsterblichkeit.

(Erstmals erschienen 1997 in kulturnews)


alle Bilder: Ernst Kahl

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04 Februar 2018

Re-up von 2009 aus gegebenem Anlass: Gigant am Strand

Nach stundenlanger Countryberieselung aus der Kurmuschel in Travemünde drangen heute plötzlich ganz andere Klänge gen Strand.

Verantwortlich dafür schien ein lustloser Stand-up-Komiker aus Berlin zu sein; das manchmal vom mittelstarken Ostseewind etwas zerfleddert herüberwehende „Icke“ legte das nahe.

Ich schaute mir den Mann an. Trotz des wolkenarmen Sommerwetters (Foto) hatte er sich in puncto Outfit für eine zwiebelartige Schichtung entschieden. Von außen nach innen trug er …

– einen eierschalenfarbenen Anzug über dunkler Weste,
– ein schneeweißes Oberhemd mit weit aufgeknöpftem Kragen,
– darunter ein blaues Halstuch sowie ein Unterhemd;
– um die Hüfte hatte er sich etwas geschlungen, das ich als braunen Pulli zu identifizieren glaubte, ein Ärmel davon baumelte ihm jedenfalls recht unvorteilhaft im Schritt, und
– komplettiert wurde diese keineswegs wettergemäße Aufmachung durch eine Baseballmütze mit asiatischem Schriftzeichen und
– Turnschuhen, auf denen groß „BÄR“ stand.


Und dieser Mann war sage und schreibe: der legendäre Rolf Zacher.

Eins der größten deutschen Schauspielorginale, ein Gigant, demgegenüber Til Schweiger nichts weiter ist als ein Molekül eines vertrockneten Krümelchens Eintagsfliegenschiss, einer vom Schlage Klaus Kinskis oder Udo Kiers, ein Ex-Krautrocker, Ex-Knastie und Ex-Junkie – und der stand also unverhofft vor mir in der Travemünder Kurmuschel.

Das einzige Mal, dass ich Zacher vorher begegnet war, ist schon ungefähr 20 Jahre her. Damals beschlich mich während einer Berlinale-Party ein menschliches Bedürfnis. Ich betrat die sanitären Anlagen, und wen fand ich vor am Pissoir? Rolf Zacher. In der Hand sein bestes Stück, im Mund eine schon lange nicht mehr abgeaschte Kippe, irgendetwas vor sich hinbrabbelnd mit der Stimme von Nicolas Cage aus „Wild at heart“ .

Seither hat sich Rolf Zacher, wie ich heute erfreut feststellen durfte, nicht wesentlich verändert. Wahrscheinlich färbt er sich – anders als Gerhard Schröder – die Haare, aber sonst waren seine Gesichtsschluchten ganz die alten; er sah sogar gesünder aus als damals mit seinen gegeelten Haaren der Vollfettstufe und jener speziellen Hagerkeit, die Heroin hervorzurufen weiß.

Rolf Zacher jedenfalls lebt, das kann ich hier froh verkünden, auch wenn er jetzt in Travemünde am hellen Nachmittag in „BÄR“-Sneakers singend und blödelnd Badegäste irritiert, die nicht wissen, welche Type sie vor sich haben. 


Bei YouTube könnten sie es sich anschauen. Auf eigene Gefahr.




01 Juli 2017

Neues aus St. Pauli


  1. In der Taubenstraße legt ein Kleinwagenfahrer bei erstaunlich geringem Tempo direkt neben uns einen perfekten U-Turn hin und erfreut sich diebisch an unserem Schreck; einen Augenblick lang sah es nämlich so aus, als sei der Gehweg für uns keineswegs die momentan sicherste Region auf ganz St. Pauli.

  2. In der Wohlwillstraße kracht, als wir gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorübergehen, ein Blumentopf auf den Bürgersteig und verfehlt nur knapp zwei Passantinnen. Das erinnert mich unschön an einen Vorfall von circa 1997, den ich hier aus gutem Grund noch niemals geschildert habe. Damals fiel neben uns kein Blumentopf vom Himmel, sondern ein Frauenkörper. Einzelheiten vielleicht irgendwann. Wenn ich soweit bin.

  3. Ein Nachbar aus einem Haus an der Reeperbahn, dessen Rückseite wir vom Balkon aus sehen, präsentiert sich der Öffentlichkeit mit Deutschland- und Totenkopfflagge. Was die Frage aufwirft, was er im September wohl wählen wird – AfD oder Die Linke? Die Welt ist kompliziert geworden. Und St. Pauli ebenfalls.

  4. Durch die Seilerstraße traben vier Pferde mit Polizisten obendrauf. Irgendwie beruhigend, dass man selbst in Zeiten von Hightechwaffen noch immer parallel – wie dereinst Dschingis Khan und Sitting Bull – auf die einschüchternde Präsenz der Gattung Equus setzt.

  5. Inzwischen sind die Hotels bekannt, in denen die G20-Teilnehmer absteigen. St. Pauli hat keinen Staatschef abgekriegt, sondern nur Journalisten – die Russen hausen im Hotel Hafen Hamburg, der Rest im Empire Riverside. Vladimir Putin belegt samt Entourage das Park Hyatt in der Innenstadt, wo ich 1999 mal Patricia Kaas interviewt habe, deren erste Single Gerard Depardieu finanzierte, der später ein Freund Vladimir Putins wurde. Die Welt ist klein, Kreise schließen sich. Patricia Kaas sagte damals den Satz: „Ich bin ziemlich naturelle, aber eben auch gerne sophistiquée.“ Das erinnert mich an den Nachbarn von gegenüber, den mit den zwei widersprüchlichen Flaggen. Aber dafür kann La Kaas natürlich nicht das Geringste.

17 Mai 2017

Meine Hilfe ist unerwünscht

Immer wenn ich eine Nachricht von Kalle Schwensen im Posteingang habe, durchzuckt es mich bang. Denn es droht die Gefahr einer Begegnung mit ihm, und die hat gewöhnlich Folgen für meine körperliche Integrität, gerade dann, wenn Kalle Schwensen einem grundsätzlich freundlich gesinnt ist. 

Diesmal lud er mich ein, und zwar zu seinem „Hardcore-Fight-Event“ am 10. Juni. Wobei Kalle Schwensen unter „Einladung“, wie sich rasch herausstellte, etwas anderes versteht als der gemeine Durchschnittsbürger. Der gemeine Durchschnittsbürger nämlich hebt bei diesem Begriff erfreut die Braue, erwartet Freigetränke, ein von kurzberockten Promomodels dargereichtes Flying Buffet und generell einen Abend, an dem man auf die Mitführung von Bargeld getrost verzichten kann.

Nicht so bei Kalle Schwensen. Seine „Einladung“ bestand darin, dass ich für 600 Tacken seinem Freistilboxereignis hätte beiwohnen dürfen. Ich lehnte mit dem Argument ab, dazu sei ich zu zart besaitet. Außerdem habe ich gerade genug von Leuten, die K.O. gegangen sind. So wie neulich auf dem Tschaikowsky-Platz.

Ich war gerade dort eingebogen, als ich zwei Räder herumliegen sah, daneben zwei Menschen. Der eine war weiblich und saß verstört auf dem Boden, der andere, ein behelmter, etwas teigig wirkender Mann, lag einige Meter entfernt augenscheinlich bewusstlos auf Bauch und Gesicht und gab jämmerliche Stöhnlaute von sich.

Mehrere Personen stürzten herbei, ich zückte mein Telefon, wählte die 112 und meldete einen Fahrradunfall mit Verletzten. Man komme sofort, hieß es. Inzwischen war die Frau hinübergerobbt zu ihrem Kontrahenten, der wieder erwacht war und sich in eine sitzende Position gehievt hatte. Seine Beine lagen flach auf dem Pflaster des Tschaikowsky-Platzes, die Füße kippten nach außen.

„Der Notarzt ist gleich da“, sagte ich zu den Opfern, um ihnen in all ihrem Leid eine hoffnungsvolle Perspektive zu bieten. Die Frau schaute hoch. Am Kinn hatte sie eine Schürfwunde so groß wie ein Ein-Euro-Stück. „Nicht nötig“, sagte sie, „ich bin Ärztin.“

Das konsternierte mich. Wie konnte sie, auch wenn sie Ärztin war, wissen, was dem Mann fehlte – hätte er nicht über ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Lungenriss, gebrochene Rippen oder derlei verfügen können? Und wer weiß, was sie selbst außer der Wunde am Kinn noch alles abgekriegt hatte. So was merkt man unterm Einfluss der unfallbedingten Adrenalinflut ja oft erst später.

„Aber der Notarzt sollte sich das schon einmal anschauen“, beharrte ich auf das übliche Procedere. Der Mann schüttelte kraftlos den Kopf, während er ins Leere starrte. „Nein, schon gut“, hauchte er. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte die Ärztin mit nunmehr verärgertem Unterton und – zu dem Mann gewandt –: „Das ist bestimmt nur der Schreck, nicht wahr?“

Er nickte. „Vor allem für meine neue Hüfte.“

Anscheinend verstand diese Jüngerin Aeskulaps unter ärztlicher Sorgfaltspflicht etwas entschieden anderes als der gemeine Durchschnittsbürger, den ich dort, auf dem Tschaikowsky-Platz, bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit zu repräsentieren die Ehre hatte.

Aber was sollte ich machen? Mir blieb nur die Hoffnung, dass der Notarzt einträfe, ehe die Ärztin ihren hüftoperierten Schicksalsgenossen vom Ort des Geschehens weggeschafft hatte. Denn wahrscheinlich – so die Vermutung von Ms. Columbo, als ich ihr die Geschichte erzählte – trug sie die alleinige Schuld am Unfallgeschehen und wollte sich keiner Investigation stellen.

Aber wahrscheinlich werden wir das niemals erfahren, denn ich überließ die beiden ihrem Schicksal. Auch mein Fass hat Grenzen.

Foto: kalle-schwensen.de